Ein halbes Jahr ist es her, dass wir in der Dezember-Ausgabe des NPO-Spotlights zu den aktuellen Bewegungen rund um die umsatzsteuerliche Organschaft berichtet haben. Anlass waren damals zwei Entscheidungen des Europäischen Gerichtshofs (EuGH), die insbesondere die Fragen des Umsatzsteuer-Schuldners, des Über- und Unterordnungsverhältnisses und der Steuerbarkeit von Innenleistungen betrafen. Am Ende der Dezember-Ausgabe hatten wir darauf hingewiesen, dass die Urteile des EuGH nun entweder durch den Bundesfinanzhof (BFH) in nationale Urteile umgesetzt würden oder der BFH dem EuGH einzelne Fragen zur weiteren Konkretisierung erneut vorlegen könnte. Der BFH hat sich beeilt und ist letztlich beide Wege gegangen: Manche Aspekte wurden im Rahmen einer EuGH-Nachfolgeentscheidung abschließend beurteilt (Urteil vom 18. Januar 2023 – XI R 29/22), andere Fragen hat der BFH dem EuGH erneut vorgelegt (Beschluss vom 26. Januar 2023 – V R 20/22). Insbesondere weil es bei dem Vorlagebeschluss um nichts weniger geht als den Bestand der umsatzsteuerlichen Organschaft, wie wir sie kennen, soll hier ein Update zu den Verfahren gegeben werden.
Eine kurze Stütze für den gedanklichen Wiedereinstieg: Die umsatzsteuerliche Organschaft ist in § 2 Abs. 2 Nr. 2 des deutschen Umsatzsteuergesetzes geregelt und bewirkt (bisher), dass Leistungen zwischen solchen Gesellschaften nicht umsatzsteuerbar sind, die innerhalb eines Organkreises miteinander verbunden sind, weil alle Gesellschaften dieses Organkreises umsatzsteuerlich als ein Unternehmen angesehen werden. Zwar können sich auch nicht-gemeinnützige Gesellschaften zu einem solchen Organkreis verbinden, allerdings hat die umsatzsteuerliche Organschaft gerade für steuerbegünstigte Verbundgesellschaften eine herausragende Bedeutung, da hierdurch Leistungen der Gesellschaften innerhalb des Organkreises, die ohne den Organkreis eine definitive Belastung mit Umsatzsteuer bei den Leistungsempfängern auslösen würden, ohne Umsatzsteuer abgerechnet werden können. Umsatzsteuerfreie Leistungen, die zur Versagung des Vorsteuerabzugs führen, werden zu einem überdurchschnittlich großen Teil von steuerbegünstigten Unternehmen im Bereich der Bildung, des Gesundheitswesens und der Wohlfahrtspflege erbracht.
Im EU-Recht existiert kein exaktes Pendent zur deutschen umsatzsteuerlichen Organschaft, weswegen sich immer wieder Fragen nach der Vereinbarkeit der Organschaft mit EU-Recht stellen. So kam es auch zu den beiden Entscheidungen des EuGH vom 1. Dezember 2022 in den in den Rechtssachen C-141/20 (Norddeutsche Diakonie) und C-269/20 (S/FA T) zur Auslegung des Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Sechsten EG-Richtlinie 77/388/EWG (nunmehr Art. 11 MwStSystRL, 2006/112/EU), die in der Dezember-Ausgabe des NPO-vorgestellt wurden. In seiner verfahrensbeendenden Nachfolgeentscheidung vom 18. Januar 2023 hat der BFH die vorangegangene Entscheidung des EuGH aufgegriffen und bestätigt, dass der Organträger Steuerschuldner bezüglich der Umsätze des Organkreises ist. Voraussetzung hierfür ist – den hergebrachten Grundsätzen entsprechend –, dass der Organträger seinen Willen bei den Organgesellschaften durchsetzen kann und wegen der Verlusthaftung des Organträgers nach § 73 AO keine Steuerverluste drohen. Der BFH ergänzt diese Grundsätze dahingehend, dass eine Organträgerschaft auch dann vorliegen kann, wenn der Gesellschafter zwar nicht über Stimmrechtsmehrheit verfügt, er aber gegenüber der Organgesellschaft seinen Willen deswegen durchsetzen kann, weil er mehrheitlich an deren Kapital beteiligt ist und den einzigen Geschäftsführer stellt. Gleichzeitig stellt der BFH durch einen ergänzenden Hinweis klar, dass eine umsatzsteuerliche Organschaft nur von Schwestergesellschaften – also ohne die Einbeziehung eines gemeinsamen Gesellschafters – nach wie vor ausscheidet.
Viel brisanter als diese erwartbaren Feststellungen sind hingegen die Äußerungen des BFH in seiner erneuten Vorlage vom 26. Januar 2023, bei der es konkret um die Fragen geht, ob in einer Mehrwertsteuergruppe die Innenleistungen dem Anwendungsbereich der Mehrwertsteuer (nicht) unterliegen und ob dies ebenfalls dann gilt, wenn der jeweilige Leistungsempfänger nur teilweise oder überhaupt nicht zum Vorsteuerabzug berechtigt ist und daher die Gefahr von Steuerverlusten besteht. Bisher hatte der BFH in ständiger Rechtsprechung angenommen, dass Innenleistungen grundsätzlich nicht steuerbar sind. Die vorangegangenen, nicht ganz eindeutigen Aussagen des EuGH nimmt der BFH nun zum Anlass, um von seinem bisherigen Verständnis abzuweichen und Innenleistungen nunmehr als steuerbar anzusehen. Zur Begründung stützt sich der BFH auf den Wortlaut des Art. 4 Abs. 4 Unterabs. 2 der Richtlinie 77/388/EWG und vertritt die Auffassung, dass alleine eine Verwaltungsvereinfachung durch die Abgabe einer einzelnen Steuererklärung für den gesamten Organkreis die Nichtsteuerbarkeit von Innenumsätzen nicht zu rechtfertigen vermöge. Dies gelte vor allem dann, wenn innerhalb des Organkreises entgeltliche Leistungen an nicht zum Vorsteuerabzug berechtigte Empfänger erbracht werden, weil hierdurch ein unzulässiger Steuervorteil erlangt werde.
Ein Sprichwort sagt, dass kurz vor Tagesanbruch die Nacht am dunkelsten ist. Während wir auf Erhellung durch den EuGH warten, ist es nun ganz dunkel geworden um die umsatzsteuerliche Organschaft. Tatsächlich lässt sich nach wie vor nicht vorhersehen, wie sich die Rechtslage in Zukunft darstellen wird. Das liegt auch daran, dass die Argumentation des BFH durchaus lückenhaft ist und dem EuGH immer noch Raum für eine gegenteilige Entscheidung lässt. So verwundert es zum Beispiel, dass der BFH in seinem Beschluss die Aussagen des EuGH zur Selbständigkeit einer Mehrwertsteuergruppe nicht aufgreift. Während die Frage der Selbständigkeit oder Nichtselbständigkeit für den EuGH von zentraler Bedeutung war, scheint der BFH die Selbständigkeit der Gruppenmitglieder schlichtweg anzunehmen.
In Anbetracht dieser fortwährenden Unklarheiten dürfte nach wie vor noch nicht der Zeitpunkt gekommen sein, um einer möglichen Entwicklung vorzugreifen und strukturverändernde Maßnahmen zu ergreifen. Durch die Positionierung des BFH wird die Luft aber deutlich dünner, sodass zum jetzigen Zeitpunkt zumindest schon einmal potentielle Auswirkungen und Gestaltungsmöglichkeiten analysiert werden könnten, um auf eine mögliche Änderung der Rechtsprechung vorbereitet zu sein. Gute Entscheidungen lassen sich bekanntlich nicht bei Nacht, sondern besser nach dem Aufstehen im Lichte der ersten Sonnenstrahlen treffen.